JAGDGESELLSCHAFT. Katrin-Vera Schauer (Auszug aus der Eröffnungsrede). Anett Freys kreativer Schwerpunkt liegt auf der Vergänglichkeit in Porträt und Landschaft. Seit 2019 spezialisiert sie sich auf das Zeichnen von am Wegesrand oder im Wald gefundener toter Tierkörper und hält den sensiblen Moment des Hinübergleitens des oft sogar noch warmen Tierkörpers ins Jenseits in fragilen Kaltnadel-Radierungen fest. Anett Frey scheint prädestiniert für das Finden von toten Tieren, Tierskeletten und Tierbehausungen. Als warteten sie auf die Künstlerin, um vor oder im Verwesungsprozess in ihrer Einzigartigkeit und ihrer zerbrechlichen Schönheit doch noch für die Ewigkeit festgehalten zu werden. Oft sind es kleine Tiere, wie Schlangen, Mäuse, ein Siebenschläfer. Oder Vögel, zum Beispiel Meisen, Krähen, Eulen oder ein Bussard, der Schädel einer Ziege oder Vogelnester, die Frey ohne zu Suchen findet und mitnimmt. Sofern ihr Präparator Kapazität hat, lässt sie ganz besonders schöne Exemplare auch für ihr Atelier konservieren.
Dort nimmt die sich viel Zeit zum Zeichnen, Radieren und Drucken ihrer kleinen Protagonisten. Wer Anett Freys Arbeits- und gleichzeitig Lebensraum schon einmal besucht hat, weiß, dass die Ruhe der toten Tiere Frey in ihrem kreativen Prozess beflügelt und trägt und es ihr gelingt, diese hinüber in ihre Arbeiten zu transportieren. Robert Walsers Überzeugung, ich zitiere „(…) dass wir viel zu wenig langsam sind (…)“ kam mir in den Sinn, als ich dort die vielen kleinen liebevollen Details sah, Gläser mit Vogelfedern, Eier in Nestern wie frisch aus dem Heckenwerk, kleine Skelette, getrocknete Pflanzenteile, Blüten und eben ausgestopfte Tiere.
Dass Anett Frey die Fragilität, Zartheit und Zerbrechlichkeit der Vorlagen für sie selbst beim Schaffensprozess nicht sichtbar, in die harten Radierplatten nach Gefühl und mitten aus ihrer Seele übersetzt und die fertigen Werke trotzdem exakt dem toten Tier gleichen, ist schon beinah ein Wunder.
Oder anders gesagt: es zeugt von ihrer immens hohen Empathie, Sensibilität und Verbundenheit mit dem Tier, das die Künstlerin bei der Kaltnadelradierung blind wiedergibt. Die Vielzahl der filigranen Striche, Ritzungen und Einschnitte ergeben in ihrer Gesamtheit zwar ein Zeugnis der oft lieber nicht bedachten Thematik des Todes, nehmen ihr durch die Schönheit und Poesie des Dargestellten jedoch gleichzeitig das Schwere, Bedrückende und Düstere. Anett Freys Tiere leiden nicht, sie sind.
Die Künstlerin zeigt, dass Werden, Sein und Vergehen auf ganz natürliche Weise zusammengehören und dass Entstehen, Wachsen und Sterben untrennbar im Kreislauf des Lebens miteinander verbunden sind, dass nicht nur das Wunder der Geburt als Vorlage für wertgeschätzte Kunst dienen kann, sondern auch der Moment des Todes, des Loslassens und des Verlassens.
Dass die Geschichte des Tierstilllebens äußerst facettenreich sein kann, beweisen Gemälde rückreichend bis ins 16. Jahrhundert. Alte und große Meister der Kunstgeschichte wie Rubens, Dürer, Manet, Ensor und Beckmann verewigten sich bereits im Zeichnen von lebenden und toten Tieren. Mich persönlich erinnert Anett Frey vor allem an Edouard Manet, der ebenfalls u.a. Radierkünstler war und berühmte Werke wie „Das Kaninchen“, „Der Hase“, „Fisch“ oder „Toter Uhu“ schuf, die allesamt Tierstillleben darstellen.
RÜCKEN. Sophia Pietryga
Die Bilder von Anett Frey erzählen vom Suchen und Finden, sind Zeugnisse ihres Alltags. Auf
ihren täglichen Wegen entdeckt sie Dinge, die andere übersehen oder als so unwichtig wahrnehmen,
dass sie keinen Eingang in ihre Gedanken finden. Häufig sind es tote Vögel, die im
Kreislauf der Natur kurz auftauchen, aber genauso schnell wieder verschwinden. Frey nimmt
sich ihrer an, entdeckt das Lebendige in ihnen und porträtiert die Fragilität dieses Zwischenzustands.
Auf Papier gebracht, als Zeichnung oder Radierung, manchmal auch in Öl gemalt,
abstrahieren sich diese Körper: Im harten und schnellen Strich entwickeln sich neue Formen
und eine sichtbare innere Auseinandersetzung der Künstlerin. Im Prozess bleibt die Individualität
des porträtierten Modells erhalten, enthält am Ende aber ebenso viel vom ursprünglichen
Subjekt, wie von Anett Frey.
Im direkten Vergleich zu den Tierdarstellungen scheinen die meist als „Landschaft“ betitelten
Arbeiten deutlich gegenstandsloser. Obwohl es auch bei diesen Arbeiten ein titelgebendes
Vorbild gibt, merkt man diesen informellen Strukturen deutlich die Introspektion der Künstlerin
an, scheinen sie aus einem subjektiven Automatismus heraus zu entstehen. Auch hier ist
das Suchen und Finden Ausgangspunkt, findet aber nicht nur in der Umwelt, sondern auch in
inneren Landschaften statt.
Die Subjektivität, mit der die Künstlerin ihren Sujets begegnet, kommt aus ihrer Offenheit der
Natur gegenüber. 1959 beschreibt Werner Haftmann im Katalog der von ihm kuratierten documenta
II: „Denn durch sie [die Offenheit] erst wurde erkannt, daß das Ergebnis einer Beobachtung
nicht absehen kann von dem, der beobachtet, daß der Bezug zum Gegenstand dessen
Definitions- und Erscheinungsweise bestimmt, daß also der klassische herrscherische Gegensatz
zwischen Mensch und Objekt nur eine und nur sehr unvollständige Erkenntnisweise
war.“ Diese Verbundenheit zwischen Werk und Autor, Künstlerin und Sujet beschreibt Haftmann
als Wesenskern der Kunst seit der Moderne. Die Bildmittel, die vormals zweckgebunden
waren: „Linie, Form, Farbe, Raum, Rhythmus“ (wieder Werner Haftmann) emanzipieren
sich und werden zu selbstständigen Hauptdarstellern der Kunst. Haftmanns These folgend
könnte man denken, der Bildgegenstand sei für das Werk völlig egal, gerade in Hinblick auf
die Arbeiten Anett Freys ist er es sicherlich nicht. Vielmehr verschmilzt darin die Künstlerin
mit dem Dargestellten; mit besonderem Augenmerk auf die dargestellte Natur, ebenso wie die
Vögel oder andere gefundene Modelle, wie Mäuse oder Pflanzen, aber auch scheinbar leblose
Steine, wird so die Zeichnung zum Erfassen des Subjekts, das Schaffen ein intimer Moment
zwischen ihm und der Künstlerin, über die Dauer des Arbeitsprozesses ein gleichzeitiges
Kennenlernen und Abschiednehmen.
Besonders der Vogel kann dabei in der Arbeit von Anett Frey als Sinnbild für Gegensätzliches
oder im Zwischenzustand befindliches gelesen werden. Symbolisch tauchen Vögel in vielen
Jahrhunderten Kunstgeschichte vor allem als Stellvertreter für das Element Luft und für die
Auferstehung der Seele, aber auch, am Beispiel des Stieglitz’, als Vorbote der Passion auf. Vor
allem in Stillleben kommt ein konträres Bildprogramm ins Spiel, das Vögel, wie in der Arbeit
Freys, meist tot zeigt. Als Teil einer Jagdszenerie oder im Vanitasstillleben werden sie zu Darstellern
der Grundprinzipien des barocken Lebens, der Erinnerung an seine Vergänglichkeit.
Auch übertragen in unsere Lebenswirklichkeit lassen sich assoziativ Bedeutungsmöglichkeiten
finden, wie die tote Taube im Rinnstein ein Vorbote des Todes des Geliebten in Jostein
Gaarders „Orangenmädchen“ ist, oder ein totes Tier in der Natur gefunden uns gleichzeitig
ihren Kreislauf vor Augen führt, aber auch die Möglichkeit bietet, ein wild lebendes Wesen in
Ruhe genau zu studieren. Entsprechend zeigen die Arbeiten Freys nicht den fliegenden oder
sitzenden, agilen Vogel, sondern das liegende Tier nach seinem Ableben, wie im Schlaf. Die
Dargestellten werden dadurch zu Attributen Freys, im Zeigen des Nicht-Gesehenen tritt die
Künstlerin nach außen und zeigt über den Mittler des Bildes ihr Inneres. Besonders in ihren
Radierungen lässt sich dabei eine Verbindung zum Seelenleben auftun: Jedes Einritzen, jede
„Verletzung“ der Metallplatte mit der Nadel bleibt auf dem später gedruckten Blatt sichtbar,
nicht jedoch als Störung, sondern als notwendiger Teil des Gesamtbildes. Schon der Wortursprung
der Grafik, griechisch „graphein“, beschreibt diese Prozesshaftigkeit, bedeutet einritzen,
eingraben, einschneiden. Hans Belting erkennt in seiner „Bild-Anthropologie“ ihren ursprünglichen
und universellen Charakter, indem er die körperliche Urform der Zeichengebung,
beispielsweise in Fussabdrücken in Sand oder Schnee, als Vorform des Grafischen und
den Körper als Ursprung aller Bilder erkennt. Gerade die Spontanität und Unmittelbarkeit der
Kaltnadelradierung schafft es in Anett Freys Kunst, ihre Ideen und Gedanken ungefiltert auf
Papier zu bringen.
„Unfassbare Ideen äußern sich in fassbaren Formen. Fassbar durch unsere Sinne als Stern,
Donner, Blume, als Form. Die Form ist uns Geheimnis, weil sie der Ausdruck von geheimnisvollen
Kräften ist.“ schreibt August Macke im Almanach „Der Blaue Reiter“. In ihrer Kunst findet
Anett Frey Ausdrucks-Formen und schafft es, sublime Prozesse, die sich auch in den Betrachter:
innen abspielen, zu kanalisieren und sichtbar zu machen.
ZEICHNUNG - RADIERUNG. Dr. Katrin Burtschell
Anett Freys Werk befindet sich in einem Spannungsfeld aus der suchenden, sich annähernden Linien- und Strichführung der Zeichnung, den harten, akzentuierten Linien der Radierung, oder des Holzdrucks und einem spürbaren plastischen Ausdruck. Viele ihrer Arbeiten entwickeln in ihrer Vielschichtigkeit einen haptischen Wert, weisen eine reliefartige Oberfläche auf, wie in ihrer Porträtserie Herr M. und in ihren Serien von Orten, die sie, aus mit Bienenwachs gebundenen Pigmenten, geradezu konstruiert. In ihren druckgraphischen Arbeiten lassen sich die Grate und Krater der Druckplatten und des Druckstocks auf dem Blatt förmlich als Landschaft lesen. Manchmal ist die Linie, der Strich schonungslos in seiner Härte und Dominanz, dann wieder scheint sich der Bildgegenstand in einer Verästelung aus feinsten Linien fast aufzulösen.
Mensch, Tier und Natur – die Landschaft, die die Künstlerin umgibt, das sind die Themen, die sie künstlerisch erforscht, in sich aufnimmt und zur eigenen Seelenlandschaft macht. Dabei spielen Begegnungen und die Frage nach der Vergänglichkeit eine leitmotivische Rolle in ihren Arbeiten. Egal ob Tier, Mensch oder Natur in jeder Begegnung geht es um eine Annäherung an das Gegenüber, an das Objekt, an den gesehenen Ausschnitt. Dieses in seiner Vielschichtigkeit zu erfassen und wiederzugeben ist Anett Freys künstlerisches Ansinnen. Dabei spielt nicht nur das visuelle Erfassen eine Rolle, sondern auch das intuitive, das Vordringen in etwas, das Aufspüren und Begreifen wollen in einem existentiellen und auch bildhauerischen Sinne.
Die Frage nach der Vergänglichkeit in all ihren Facetten, danach wie sich diese festhalten lässt, verleiht den Arbeiten einen oftmals düsteren Charakter, der sich dann auflöst, wenn man sich auf das Spiel von hell und dunkel, Licht und Schatten, Farbnuancen, auf das abstrakte, reliefartige Liniengeflecht einlässt. Entsteht die Zeichnung noch in einer spielerischen Leichtigkeit, einem skizzenhaften schnellen Erfassen, so wird der Vorgang der Radierung zu einem schöpferischen Prozess, der manchmal dem täglichen Überlebenskampf gleicht. Die Künstlerin fügt den Oberflächen der Bilder oder dem Bildträger zum Teil tiefe Verletzungen zu, die sie dann wieder ausbessert, ausschabt, schlichtet und glättet, so dass sie, trotz der aufeinanderliegenden Schichten, sichtbar bleiben wie Lebensspuren.
Anett Freys Werk schöpft seine Kraft und Spannung aus den immer wieder neuen unmittelbaren Begegnungen mit ihrem Gegenüber. Mit forschendem, erkundendem Blick nimmt sie Dinge, Momente und Ausblicke war, an denen wir möglicherweise achtlos vorbei laufen würden und sie erst durch ihre ernsten, stillen, in die Tiefe gehenden Arbeiten entdecken.
FINDLINGE. Dr. Katrin Burtschell
Anett Freys künstlerische Recherche, ihr Fragen nach der Vergänglichkeit und der stimmigen Umsetzung des flüchtigen Moments führt sie auch in ihrer Serie Findlinge weiter. Die Begegnung mit den toten Tieren, die sie zufällig auf ihren Streifzügen durch die Natur findet, lässt sie nicht mehr los. Sie sammelt die Tiere, bannt sie auf Papier, nähert sich dem leblosen Körper mittels der Zeichnung und der Radierung, fasziniert vom Ausdruck des erstarrten Moments.
Der Moment des Auffindens des Tieres spielt eine entscheidende Rolle für die Entstehung des Bildes, das Anett Frey sich von dem Findling macht und dann in der Zeichnung oder Radierung umsetzt. Die Einsamkeit, Ruhe und Stille, die die Künstlerin im Moment des Auffindens des Tieres verspürt, dringt unmittelbar ein in ihre Bilder, die zum momento mori werden. Dabei gelingt es der Künstlerin die Verletzlichkeit, die Zerzaustheit und gleichzeitig die Erhabenheit, die die Tiere über ihr Ableben hinaus ausstrahlen, bildnerisch einzufangen. Durch die gewählte Position und die Perspektive, in der sie den Findling unserem suchenden Blick gegenüberstellt, erschafft sie einen Bedeutungsraum, eine narrative Spur aus Linien, die sich mal großflächig leicht auflösen, als wäre das Tier ein ephemeres Wesen, mal verdichtet kompakt dem Tier einen tatsächlichen Körper verleihen. Der leblose Körper ist mehr als nur eine Hülle. Durch die Vielschichtigkeit der Linien, erzählt er vom Gewesenen.